Du bist berechenbar und durchschaut

IESM Überwachung

Stell dir vor, die Grundrechte einer Gesellschaft werden verletzt, und niemanden interessiert es. Eine solche Situation erleben wir in Deutschland in den letzten Jahren ziemlich häufig. Sie wird von der Regierung, Unternehmen und Geheimdiensten vorgenommen und teilweise sogar von uns gewünscht und gefördert. Ich spreche von der Vorratsdatenspeicherung, der NSA-Überwachung, die Analyse unserer Wünsche und unseres Verhaltens durch Amazon, Google und Co. und die Manipulation unseres Verhaltens durch finanzielle Anreize (wer eine SmartWatch mit Fitness Apps benutzt, wird von einigen Krankenkassen privilegiert).
Wer z.B. ein E-Book kauft, lässt sein Leseverhalten analysieren. Das hat zwar den Vorteil, dass die Technik den individuellen Bedürfnissen angepasst werden kann. Gleichzeitig kann man mit diesen Informationen Missbrauch betreiben, wenn man das möchte. Kritische, nicht unternehmenskonforme Literatur kann dem Leser bewusst vorenthalten werden (plötzlich verschwand auf allen Kindles der Roman „1984“ von George Orwell – natürlich war dies nur ein Problem des Urheberrechts; zeigt aber, dass es technisch möglich ist [1]). Rückschlüsse auf intime Vorlieben oder sogar strafrechtlich relevante Interessen können gezogen werden. Wer häufig Bücher zum Thema „Terrorismus“ kauft, analysiert möglicherweise die beste Vorgehensweise für einen Anschlag. Die massenhafte Sammlung und Verwertung unserer persönlichen Informationen und Interessen laden Regierungen, Unternehmen und Geheimdienste dazu ein, Macht auszuüben. Entweder, indem man uns zum Kauf aller möglichen Produkte ermuntert, oder indem man uns aus vermeintlichen Sicherheitsgründen daran hindert, bestimmte Informationen zu erhalten und Handlungen durchzuführen.

©IESM/pixelio.de

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Auch das für Fremde sehr langweilige Telefonat mit einem Freund würde ich niemals freiwillig für andere Menschen zugänglich machen. Entsprechend ist es nicht in Ordnung, dass es der Staat bzw. der Geheimdienst hören und analysieren kann – und das ohne einen Verdacht auf kriminelles Verhalten. Doch genau die Privatsphäre ist es, die in Zukunft nur noch eine untergeordnete Rolle in unserer Gesellschaft spielen wird (zu meinem Artikel dazu). Privat wird für uns schon das sein, was Fremde nicht durch persönliche Anwesenheit mitbekommen, sondern nur über die Webcam, das Mikrofon oder die abgegriffenen Dateien. Die Überwachung von Telefonaten, Kaufverhalten und Dateien ist für uns so abstrakt, dass wir uns damit nicht unwohl fühlen. Wir spüren die Überwachung nicht, obwohl wir von ihr wissen. Die persönliche Anwesenheit Fremder bei privaten Gesprächen oder Handlungen ist für uns jedoch im wahrsten Sinne des Wortes greifbarer und sorgt daher für ein unangenehmes Gefühl. Doch ersteres ist sogar viel gefährlicher als die analoge Verletzung der Privatsphäre. Denn im Gegensatz zur analogen Privatsphäreverletzung werden wir digital von ganzen wirtschaftlichen und staatlichen Organisationen überwacht, die unser Verhalten und unsere Gespräche womöglich dauerhaft speichern.
Wer uns so genau kennt, wie die Unternehmen oder die Regierung, kann uns in unserem Handeln und Denken manipulieren, ohne dass wir es merken. Mit Freiheit hat unser Handeln und Denken dann nichts mehr zu tun, obwohl wir selbst gar nicht merken, dass wir unfrei geworden sind.
Doch was ist so schlimm daran, unfrei zu sein, wenn wir es selbst gar nicht bemerken?
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[1] Siehe dazu: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/e-reader-kindle-amazon-loescht-digitale-exemplare-von-1984-a-637076.html

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