Der Kompromiss stirbt

johnhain Egoismus

Im „Heute Journal“ vom 29.12.2019 wurde ein Beitrag über die Spaltung unserer Gesellschaft gebracht. Dabei wurde zunächst ein Blick auf Deutschland geworfen. Junge Menschen kämpfen gegen das „weiter so“ der alten Generation. Westdeutsche blicken auf die Brüder und Schwestern in Ostdeutschland noch immer von oben herab. Rechtspopulisten wettern gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Auch die Entwicklung in Europa und der Welt wurde in dem ZDF-Beitrag angesprochen. Großbritannien verließ Ende Januar 2020 nun endgültig die EU. Ungarn baut seit Jahren das Regierungssystem zu einem totalitären Regime um. Trump poltert gegen alles und jeden, der ihn nicht „great“ findet, ohne Rücksicht auf Verluste.

Die spannende Frage nach dem „warum?“ wurde im Beitrag explizit gestellt. Eine mögliche Antwort sei die Gleichförmigkeit, mit der das Leben in den westlichen demokratischen Nationen mit gutem Lebensstandard verlaufe. Der Mensch sehne sich nach Abgrenzung, um Individualität und Eigenständigkeit erfahren/leben zu können. Dabei klammere er sich wahlweise an seine Religion, seine Kultur oder seinen Nationalstolz.

Ich halte diesen Erklärungsversuch für nicht sehr überzeugend. Ob Millionen von Menschen auf der ganzen Welt auf dieselbe Weise im Supermarkt einkaufen gehen können wie ich, oder ihre Kinder auf ähnliche Weise erziehen; ob sie denselben Lebensstil pflegen oder nicht, ist mir ziemlich egal. In meinem Alltag, in dem nicht immer die Zeit zur Reflexion bleibt, nehme ich diese Dinge noch nicht einmal bewusst wahr. Ich wage es zu bezweifeln, dass es der Mehrheit der Gesellschaft anders ergeht.

johnhain Egoismus

Was ich wahrnehme, ist ein mangelnder Wille zur Kompromissbereitschaft auf allen Seiten. Ein Kompromiss, so scheint es, wird heutzutage als ein Verlust für alle Beteiligten angesehen. Setzt man nicht zu 100% seinen Willen durch, hat man verloren. Dies scheint die Devise in heutigen Zeiten zu sein. Dass ein Kompromiss ein Gewinn für alle Beteiligten ist, weil niemand komplett nachgeben muss, scheint ein verlorengegangener Gedanke zu sein. Durch die Werbeindustrie und unseren vergleichsweise hohen Lebensstandard können wir uns mehr leisten als je zuvor. Technologien wie das mobile Internet erlauben es uns, alles sofort haben zu können: vom neuen T-Shirt, das wir online shoppen über das neue Musikvideo unserer Lieblingsband bis zur Online-Buchung unseres nächsten Urlaubs. Wir müssen auf nichts verzichten und brauchen meistens nicht mal zu warten, bis wir unseren Willen bekommen. Unser Leben und Handeln in einer kapitalistischen Konsumgesellschaft verändert unser Denken. Wir übertragen unseren Anspruch, immer alles sofort zu 100% haben zu können, auf andere Menschen und sogar auf die Politik. Da wir jedoch nicht so gleichförmig sind, wie es der „Heute Journal“-Beitrag suggeriert, kann es die Politik nicht jedem Mitglied unserer Gesellschaft kompromisslos recht machen. Die Politik muss einen Interessensausgleich herstellen, mit dem möglichst alle Beteiligten gut leben können. Beharren die Beteiligten fest auf ihrer Position, gelangt die Politik in einer Demokratie an ihre Grenzen. Dies führt dazu, dass sich die frustrierten Beteiligten nach einer anderen Rechtsordnung und nach einem starken Staat sehen – zumindest solange dieser die eigenen Interessen vertritt. Dies mag einer der Gründe dafür sein, warum rechte Parteien und rücksichtslose Politiker wie Trump an die Macht kamen.

Ein weiterer Aspekt, der zur Spaltung der Gesellschaft führt, scheinen die Folgen der Globalisierung und das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen und Milieus zu sein. Diese Kulturen und Milieus haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man miteinander umgehen darf und sollte. Wie benimmt man sich in der Öffentlichkeit? Welches Verhalten ist rücksichtslos? Wieviel Respekt darf jemand von mir erwarten? Diese Werte gilt es in einer Gesellschaft zu definieren und zu vertreten. Doch genau dies gelingt seit Jahren nicht mehr – aufgrund der oben beschriebenen fehlenden Kompromissbereitschaft. Jeder Einzelne von uns müsste sich freiwillig mehr zurücknehmen in der Durchsetzung seiner eigenen Interessen. Andernfalls werden wir in einigen Jahren die Konsequenzen mangelnder Kompromissbereitschaft auf eine Weise zu spüren bekommen, die derzeit vielleicht noch nicht absehbar ist.

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