In meinem Artikel vom 14. Dezember letzten Jahres[1] beschrieb ich ganz allgemein das mögliche Ende der EU. In dem Artikel ging es mir in erster Linie darum, dass die EU nur noch eine Wirtschaftsgemeinschaft ohne gemeinsame Werte zu sein scheint, die aufgrund unterschiedlicher und egoistischer Einzelinteressen die großen Probleme unserer Zeit nicht bewältigen kann. Diese Probleme liegen jedoch nicht nur in wirtschaftlichen Belangen, sondern in erster Linie in sozialgesellschaftlichen Interessen der Bevölkerung begründet. In Bezug auf die Griechenlandkrise und die Flüchtlingskrise wies ich darauf hin, dass
„[d]ie europäischen Menschenrechtskonventionen […] nicht als Maßstab und Leitfaden für politische und soziale Kooperation [gelten], sondern […] nicht mehr zu sein [scheinen] als ein Werbeversprechen für die Bürger, das nicht eingehalten wird, wenn es dem jeweiligen EU-Land nicht passt.“
Und weiter:
„Schon in den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob das derzeitige Modell ‚Europäische Union‘ noch funktioniert, oder die vermeintliche Gemeinschaft auseinanderbrechen wird. Ich vermute letzteres.“
Dass meine Prognose bereits ein halbes Jahr später zutreffen würde, hätte ich allerdings nicht gedacht.
Ganz konkret auf den bevorstehenden Brexit bezogen, spielen noch andere Gründe eine Rolle dafür, warum sich die knappe Mehrheit des Volks für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU entschieden hat. Doch im Kern laufen die meisten Argumente darauf hinaus, dass akzeptable Kompromisse zwischen den Staaten für Großbritannien doch nicht mehr akzeptabel waren – sprich: nicht mehr die Möglichkeit bestand, gemeinsam an einem Tisch mithilfe gemeinsamer Werte und einer von allen geteilten Grundhaltung Politik zu betreiben, die über Finanz- und Handelsfragen hinausgeht.
Die Briten stimmten nun also für den Austritt aus der EU. Die Börse stürzte ab. David Cameron wird zurücktreten. Gleichzeitig kann dieser historische Schritt Anlass für dringend notwendige Reformen und Neuausrichtungen der EU sein – einer EU, die in kurzer Zeit viel zu schnell gewachsen ist und sich mit der Mentalität, den Bedürfnissen, Werten, Erwartungen und Sorgen der Neuzugänge nicht ansatzweise auseinandergesetzt hat. Wichtige Grundfragen wurden in der Vergangenheit kaum oder gar nicht beantwortet – vielleicht sogar noch nicht einmal gestellt. Teilen die anderen Länder – unabhängig von wirtschaftlichen Interessen – unsere Werte? Passen diese Werte zur EU? Können und müssen die Bedürfnisse und Erwartungen neuer Mitgliedsstaaten erfüllt werden? Sind die EU und damit die bisherigen Mitgliedsstaaten schon bereit für die Aufnahme von weiteren Staaten? Welche – ganz besonders auch gesellschaftliche – Kriterien müssen dafür bei uns selbst und bei potenziellen Neuzugängen erfüllt sein? Wie schafft man den Spagat zwischen europäischer Verwaltung und nationalstaatlicher Souveränität, der von den Nationen und ihren Bürgern akzeptiert wird?
Wenn Europa in Zukunft stabil sein und den Begriff ‚Wertegemeinschaft‘ nicht bloß als Schlagwort benutzen möchte, dann bedarf es einer umfassenden Reform, die mit der ausführlichen und verständlichen Beantwortung dieser Fragen beginnen muss. Dafür wird es höchste Zeit!
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