Eine Meinung ist nur eine Meinung

geralt Debatte
Nur (m)eine Meinung (#52): Eine Meinung ist nur eine Meinung

Beteiligen Sie sich an Diskussionen in den sozialen Netzwerken? Wenn ja, dann sind Sie bestimmt schon mal wahlweise als links-grün versifft oder Rassist bzw. Sexist beschimpft worden. Bisher habe ich den Debatten auf Social Media nicht viel Bedeutung beigemessen. Aber sie treiben auch zunehmen in der realen Gesellschaft einen Keil zwischen uns. Dabei läuft das Prinzip immer ähnlich ab:

Entweder lehnt man Zuwanderung, Klimaschutzmaßnahmen, das Gendern oder die Corona-Maßnahmen ab. Dann wird man als Rassist, Klimaleugner, Sexist oder Corona-Leugner beschimpft. Oder man steht für eine offene Einwanderungspolitik, unterstützt die letzte Generation, beherrscht die gendergerechte Sprache im Schlaf und ist schon 3x geboostert. Dann wird man als links-grün-versiffter Gutmensch beschimpft.

In Bezug auf die erste Gruppe gibt es eine real existierende Schnittmenge. Es gibt Menschen, deren Ansichten so undifferenziert sind, dass man sie zurecht als Rassisten, Klimaleugner, Sexisten und Corona-Leugner bezeichnen kann. Hier handelt es sich nicht um eine Beleidigung oder Diffamierung, sondern um die Nennung einer Tatsache. Eine Diskussion mit solchen Leuten ist in der Regel zwecklos. Glaubt mir. Ich habe es versucht.

Es gibt jedoch einen großen Anteil an Menschen in unserer Gesellschaft, die Frauen und Flüchtlingen die gleichen Rechte und den gleichen Respekt zukommen lassen und trotzdem vernünftige Gründe haben, die gegen eine zu offene Einwanderungspolitik oder eine Frauenquote oder das Gendern sprechen. Und es gibt Menschen, die das Problem des Klimawandels anerkennen und trotzdem für gemäßigte Klimaschutzmaßnahmen sind, die auch ökonomische Aspekte berücksichtigen.

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©geralt/pixabay.com

Diese Menschen werden häufig auch als Rassisten, Sexisten oder Klimaleugner beschimpft und diffamiert – und zwar von Menschen, die sich selbst als die Kämpfer für die Demokratie, Gleichberechtigung und Toleranz sehen: Menschen aus dem links-progressiven Lager.

Dieses Aufdrücken von Stempeln ist nicht nur beleidigend und herabwürdigend. Es untergräbt auch einen demokratischen Prozess – nämlich einen Diskurs. Und wenn der Diskurs nicht mehr sachlich und mit Argumenten geführt wird, können auch keine ausgewogenen politischen Entscheidungen daraus entstehen. So entsteht dann eine AfD mit radikalen Forderungen, die man in der Tat rassistisch bezeichnen kann.

Durch das Beschimpfen des politischen Gegners als Sexisten oder Rassisten will man die Debatte beenden – ganz nach dem Motto: Person X ist ein Rassist oder Sexist. Als Demokraten und weltoffene Bürger dürfen wir ihm nicht zuhören, sondern wir müssen seine Haltung verurteilen. Ein solches Verhalten ist antidemokratisch und gefährlich. Und das dies im Namen des Kampfes für Toleranz und Gleichberechtigung stattfindet, macht es auch sehr zynisch. Unter dem Deckmantel der politischen Korrektheit werden wichtige gesellschaftliche Debatten abgewürgt, um die eigene Deutungshoheit über ein Thema sicherzustellen. Ich möchte nicht so weit gehen zu behaupten, dass hier ein linker Plan verfolgt wird. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass diese Menschen in bester Absicht handeln und selbst gar nicht realisieren, wie diskriminierend und demokratieschädigend sie sich selbst verhalten.

Um Minderheiten, Frauen und andere Kulturen vor Diskriminierung zu schützen, achten wir seit einigen Jahren stärker darauf, ob unser Handeln oder unsere Sprache diese Gruppen verletzt und abwertet. Dies ist ein wichtiger zivilisatorischer Fortschritt. Sein eigenes Handeln und Sprechen zu hinterfragen ist ein erster wichtiger Schritt in Richtung mehr Rücksichtnahme und Toleranz.
Wir müssen als Gesellschaft jedoch aufpassen, dass unsere verstärkte Sensibilität nicht in eine übertriebene Hypersensibilität abgleitet, bei der aus jeder Mücke ein Elefant gemacht wird. Fühlt man sich wegen jeder Kleinigkeit, die gar nicht böse und abwertend gemeint ist, beleidigt und fordert Konsequenzen, dann misst man seiner eigenen Befindlichkeit in der Gesellschaft einen größeren Stellenwert bei, als man verdient hat. Die selbsternannten Kämpfer für Gleichberechtigung und Toleranz müssen begreifen, dass ihre Meinung genau das ist: eine Meinung. Nicht mehr und nicht weniger. Sie kann aus den edelsten Absichten gebildet worden sein, hat aber keinen Anspruch auf Wahrheit, Allgemeingültigkeit und ist nicht mehr wert als die Meinung anderer Menschen.

Wenn sowohl Linke als auch Konservative wieder mehr Toleranz und Respekt gegenüber abweichenden Meinungen zulassen würden, könnten wir der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken. Und wenn wir es dann noch schaffen würden, zuzugeben, dass wir uns manchmal irren und die Gegenseite recht hat, könnten wir sogar ein Vorbild für andere Gesellschaften in der Welt sein.

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