Niemand muss immer moralisch handeln

Nico Lubaczowski Massentierhaltung

An jeden einzelnen Menschen in Deutschland werden von der Gesellschaft viele hohe Ansprüche gestellt. Man soll die Natur schützen, indem man möglichst selten das Auto bewegt und sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Ziel kämpft – auch wenn man dadurch unflexibler ist und weniger Luxus genießt. Man soll möglichst wenig Müll produzieren. Man soll die Ausbeutung von Arbeitern verhindern, indem man Fair Trade-Produkte für teures Geld kauft. Man soll das Wohl der Tiere berücksichtigen, indem man sich vegetarisch ernährt oder zumindest bloß selten noch ein Stück Bio-Fleisch isst. Man soll aufgeschlossen mit Ausländern und Behinderten umgehen, eine gendergerechte Sprache benutzen und als Unternehmer Frauen in keinen Belangen dem Mann gegenüber benachteiligen.
Vermutlich habe ich viele wichtige Dinge vergessen, die jeder von uns täglich beachten sollte, und werde dafür von den entsprechenden Interessensverbänden kritisiert. Ich wollte jedoch bloß verdeutlichen, wie komplex und moralisch unser Leben geworden ist, obwohl klassische Religionen in der westlichen Welt zunehmend aus der Mode kommen. Dennoch existieren viele Missstände wie z. B. Massentierhaltung, Ausländerhass, Ausgrenzung von Minderheiten, Müllberge und billige Arbeitskräfte, die unsere Smartphones und Bügeleisen zusammenbauen. Denn wie schon zu Zeiten der großen Religionen gibt es auch heutzutage eine breite Masse, die mit den Anforderungen an ein ‚richtiges‘ Leben überfordert ist. Dazu kommen natürlich noch ein paar schwarze Schafe, die sich nur für ihr eigenes Wohl interessieren und dafür auch über Leichen – zumindest aber über die Unversehrtheit von Natur, Mensch und Tier – gehen. Zu allem Übel sitzen diese schwarzen Schafe häufig in Führungspositionen großer Unternehmen und in der Politik.

©Nico Lubaczowski/pixelio.de
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Doch sobald man deren schändliches Verhalten abschwächt, erkennt man sich selbst in ihnen wieder. Schließlich wollen wir alle nicht bloß täglich von morgens bis abends damit beschäftigt sein, ein anständiges Leben zu führen und auf andere zu achten. Wir möchten eigene Wünsche und Bedürfnisse befriedigen. Einige dieser Bedürfnisse lassen sich nicht immer mit moralisch geforderten Verhaltensweisen vereinbaren. Wir möchten alle nicht auf unser Smartphone, die günstigen Klamotten, das Auto und das günstige Stück Fleisch verzichten. Wir wollen uns nach einem anstrengenden Arbeitstag nicht noch mit der fremdartigen und komplizierten Kultur des Ausländers im Nachbarhaus auseinandersetzen. Und wir wollen auch nicht permanent jedes Wort auf die Goldwaage legen und eine politisch korrekte, gendergerechte Sprache erlernen.
Hören wir auf damit, uns selbst zu belügen: wenn wir ein lebenswertes Leben haben möchten, dann können wir nicht sämtliche moralischen Forderungen erfüllen, die an uns gestellt werden. Und dies kann auch nicht verlangt werden. Schließlich hat unser eigenes Glück auch einen Wert, der bis zu einem gewissen Grad schützenswert ist. Wenn wir die Interessen anderer als beachtenswert betrachten, gibt es keinen plausiblen Grund, bei den eigenen Interessen eine Ausnahme zu machen.
Trotzdem soll das Eintreten für die eigenen Bedürfnisse und ein leichteres Leben kein Freifahrtschein für die Ignoranz sämtlicher moralischer Werte sein. Wir mögen nicht fähig und in der Pflicht sein, ein anständiges Leben zu führen. Aber wir können uns auf zwei oder drei moralische Werte beschränken, nach denen wir konsequent leben. Welche Werte das sind, obliegt der Entscheidung jedes Einzelnen. Wem Tiere besonders am Herzen liegen, wird weiterhin günstige Smartphones kaufen und die Ausbeutung von Arbeitskräften erhalten. Stattdessen wird er mit einer vegetarischen Ernährung dazu beitragen, dass weniger Tiere leiden müssen. Wer hingegen auf Fleisch nicht verzichten möchte, tut anderweitig Gutes, indem er sich z.B. für Kranke und Behinderte engagiert.
Auf diese Weise bleiben viele Missstände in der Welt bestehen. Mensch, Tier und Natur werden wir mit meinem Vorschlag nicht in Gänze vor Ungerechtigkeit und Schaden retten können – aber immerhin ein bisschen und in einem Maße, das uns nicht überfordert und das Recht auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse adäquat berücksichtigt.

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