Fastenzeit in einer kapitalistischen Welt

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Nur (m)eine Meinung #56: Fastenzeit in einer kapitalistischen Welt

Für die Christen hat am Aschermittwoch die Fastenzeit begonnen. Bis Ostern soll man als gläubiger Christ nun auf bestimmte Lebensmittel wie Fleisch, Alkohol und Süßigkeiten verzichten und sich stärker auf Nächstenliebe und sein eigenes Verhalten besinnen. In unserer heutigen kapitalistischen Welt, in der sich viel um den schnellen Wegwerf-Konsum dreht, könnte man den Verzicht auf das Handy, shopping und eine Entschleunigung des Alltags als weitere Gebote der Fastenzeit definieren. Auf diese Weise kann die Fastenzeit auch für Menschen interessant werden, für die Religion keine Rolle im Leben spielt.
Auf den ersten Blick wirkt die 40-tägige Fastenzeit wenig attraktiv und einladend – bedeutet sie doch Verzicht auf Dinge, die wir mögen und gewohnt sind. Dieser Verzicht macht das Leben unangenehmer und komplizierter in unserem ohnehin schon anstrengenden Alltag. Wer mal versucht hat, eine nur 15-minütige Straßenbahnfahrt zu absolvieren, ohne das Handy aus der Tasche zu holen, wird sich 40 Tage ohne das Smartphone gar nicht vorstellen können. Und nachdem man nach dem langen und stressigen Arbeitstag noch die quengelnden Kinder vom Sport abgeholt und Abendessen gekocht hat, darf man sich kein Glas Wein gönnen?

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©congerdesign/pixabay.com

Doch nach der ersten Phase der Überwindung wird die christliche Intention der Fastenzeit wohl bei mehr Menschen ihre Wirkung entfalten, als diese sich vorstellen können. Denn der Verzicht auf manches Laster oder die nette mediale Ablenkung wirft einen zurück auf sich selbst und die eigenen Gedanken und Gefühle. Ohne den Wein und die Süßigkeiten bleibt – womöglich nach einer kurzen Phase des Entzugs – dem Körper mehr Vitalität und Energie für die anderen Herausforderungen des Lebens. Als netter Nebeneffekt wird der Geldbeutel geschont. Und ohne den Streamingdienst oder das Handy mit all seinen Ablenkungen hat man auf einmal mehr Zeit für die Dinge des analogen Lebens, für die man sich schon längst mal wieder Zeit freiräumen wollte. Der Alltag entschleunigt sich fast wie von selbst. Man nimmt seine Mitmenschen wieder stärker wahr, macht sich wieder bewusst, in welchem Alltagstrubel man eigentlich gerade steht und setzt sich damit wieder auseinander. Das Zulassen der eigenen Gedanken und Gefühle mag auch zunächst beängstigend wirken. Und doch ist es psychologisch wichtig. Denn erst die Auseinandersetzung mit ihnen lässt uns rechtzeitig ggf. korrigierende Maßnahmen und Entscheidungen für unseren weiteren Lebensweg treffen – Entscheidungen, die wir andernfalls womöglich zu weit nach hinten geschoben oder gar nicht getroffen hätten. Dabei muss es gar nicht zwingend um die großen Entscheidungen des Lebens gehen. Auch kleinere Kursänderungen in unserem Alltag – sei es privat oder beruflich – können zur Verbesserung unserer Zufriedenheit beitragen.
Da man im hektischen Alltag nicht ohne weiteres die routinierten Zwänge und Laster aufgibt, kann ein christliches oder selbst auferlegtes Gebot wie eine befristete Zeit des (medialen, kulinarischen, kapitalistischen) Fastens das geeignete Mittel der Wahl sein. Wer die Disziplin aufbringt und das mal durchzieht, wird überrascht sein, in welche Augen er nach der Fastenzeit im Spiegel blicken wird.

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