Cancel Culture ist undemokratisch

Cancel Culture viarami
Nur (m)eine Meinung #60: Cancel Culture ist undemokratisch

Wenn man dem Podcaster Matze Hielscher Glauben schenken darf, dann ist die Zahl der Kontaktabbrüche innerhalb von Familien in den letzten ein bis zwei Jahren sprunghaft angestiegen.1 Zahlen gibt es dazu derzeit nicht. Es handelt sich dabei also nur um eine subjektive Beobachtung. Sollte an dieser Beobachtung etwas dran sein, stellt dieses Phänomen einen traurigen derzeitigen Höhepunkt einer Entwicklung dar, den wir schon seit Längerem in unserer Gesellschaft beobachten können.

Während die Tugendethik eine immer geringere Rolle im Leben der Menschen zu spielen scheint, entwickeln sich immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft zu Gesinnungsethikern. Sie haben nicht in erster Linie Tugenden ausgebildet, die ein ganzes Leben lang gelten, unumstößlich sind und sich auch mit den teils langfristigen Konsequenzen einer Haltung beschäftigen. Vielmehr scheint die Gesinnung vieler Menschen zunehmend von den persönlichen Gefühlen abzuhängen. Dazu kommt der Wunsch, dass Andere bitte genau so fühlen sollen wie man selbst. Diese Gefühle unterliegen natürlicherweise Schwankungen und sind nicht so beständig wie eine Tugend – also ein Wert an sich – den man sich nach Jahren der Abwägung und Prüfung zu eigen macht.

Die ungewollten Folgen gesinnungsethischer Überlegungen sind oft schlimmer als das, was man aus guten Absichten heraus verhindern oder bekämpfen wollte. So wird z. B. eine wertegeleitete feministische Außenpolitik keine relevanten Verbesserungen für Frauen in China erreichen, da sich China in seine inneren Angelegenheiten nicht reinreden lässt. Stattdessen wird das Verhältnis zwischen Deutschland und China schlechter, weil sich China moralisch abgewertet und von oben herab behandelt fühlt – ein Verhalten, dass man sich dauerhaft nicht gefallen lassen wird.
Ein anderes Beispiel ist das Scheitern von Friedrich Merz im ersten Wahlgang der Kanzlerwahl. 18 Abgeordnete aus der eigenen Koalition scheinen mit Merz als Kanzler nicht einverstanden gewesen zu sein. Das ist legitim und kann gut begründet sein – denkt man z. B. an die gemeinsame Abstimmung der CDU mit der AfD, seine Haltung in der Migrationsfrage oder dem gebrochenen Wahlversprechen bzgl. neuer Schulden. Diese persönliche Gesinnung haben 18 Abgeordnete vor das Wohl des Landes gestellt, das mit einem solch unharmonischen Regierungsstart gelitten hat und noch mehr gelitten hätte, wenn Merz auch im zweiten Wahlgang keine Mehrheit bekommen hätte.

Cancel Culture viarami
©viarami/pixabay.com

Weil die Befindlichkeiten der Menschen eine zunehmende Bedeutung bekommen, sinkt damit die Fähigkeit der Menschen, andere Meinungen auszuhalten. Das gilt im Privaten ebenso wie auf der politischen Bühne. Immer häufiger werden Personen mit abweichender Meinung gecancelt. Nicht rechtlich – aber gesellschaftlich werden sie durch Ausgrenzung aufs Abstellgleis gestellt. Dies zeigte sich in den Corona-Jahren sehr bei Impfskeptikern. Aber auch bei anderen kontroversen Themen wie der Gender-Debatte oder der Migration kann das beobachtet werden. Wer eine so grundlegend andere Haltung hat, sollte keine Sendung im Fernsehen mehr moderieren dürfen oder sonst eine Plattform geboten bekommen – so die Forderungen. Am besten redet man mit solchen Leuten nicht mehr. Das gilt wohl mittlerweile auch für die eigene Familie. Man konnte schon in der Corona-Zeit beobachten, dass an der unterschiedlichen Haltung zur Impfpflicht oder den Regeln zur Kontaktbeschränkung ganze Familien erbrochen sind.

Doch was soll uns die Ausgrenzung von Menschen mit unliebsamer Meinung langfristig bringen? Wie human und fair ist es, einen Menschen nur auf seine Meinung zu einem bestimmten Thema zu reduzieren?
Cancel Culture ist letztlich ein Zeichen von völliger Ratlosigkeit und Überforderung. Sie löst keine Probleme, sondern erzeugt noch mehr Spaltung in unserer Gesellschaft. Eine Debatte wird mit dem canceln von Personen bzw. Meinungen für beendet erklärt, weil man völlig unfähig ist, inhaltlich damit umzugehen und eine andere Haltung auszuhalten. Dass jemand etwas ganz schlimmes gesagt hat und deshalb in der Öffentlichkeit nicht mehr stattfinden soll – also in der Öffentlichkeit ausgelöscht werden soll – ist anmaßend. Cordula Stratman geht sogar noch weiter und erkennt darin sogar etwas faschistisches.

Zu diesem Thema habe ich mich in den letzten Jahren schön öfter zu Wort gemeldet. Doch was will ich eigentlich sagen? Ich will sagen, dass Widerspruch gegen problematische Äußerungen selbstverständlich auch weiterhin zulässig sein soll und muss. Ich will sagen, dass ausnahmslos jeder Teilnehmer einer Debatte damit leben muss, dass man ihm evtl. nicht zustimmt, ihm widerspricht und sogar eine gegenteilige Haltung vertritt.

Ich will aber auch sagen, dass man einen Menschen nicht canceln sollte – auch wenn man seine Äußerungen oder seine Haltung ablehnt oder schäbig und geschmacklos findet. Ich will auch sagen, dass man eine Person nicht nur auf seine kontroverse Haltung zu einem Trigger-Thema reduzieren, sondern sie als Ganzes sehen sollte. Denn ein Mensch ist so viel mehr als nur seine Meinung zu einem Thema. Übrigens sollte man sich selbst auch nicht ausschließlich über seine Haltung zu Themen definieren. Man reduziert sich damit selbst und wird der Komplexität des eigenen Charakters nicht gerecht.
Ich will auch sagen, dass ich gerade von den Linken so enttäuscht bin, weil ich einen höheren Anspruch an sie stelle und mehr von ihnen erwartet habe. Sie kämpfen eigentlich für erstrebenswerte, liberale Werte – sind aber leider darin selbst so dogmatisch geworden, dass sie sich verachtend, ausgrenzend, spaltend und damit schädlich für unsere Gesellschaft verhalten. Und sie merken es scheinbar nicht einmal, obwohl es sich bei ihnen oft um gebildete und aufgeklärte Personen handelt. Mit ihrer gesinnungsethischen Herangehensweise unterminieren sie das, wofür sie sich einsetzen.

Ich wünsche mir in strittigen gesellschaftlichen Debatten eine moralische Abrüstung auf allen Seiten und eine ganzheitliche Betrachtung. Lasst uns anfangen und uns alle ein wenig mehr zurücknehmen.


1  Podcast „Hotel Matze“ vom 23.04.2025: https://open.spotify.com/episode/3AOR1MFi68xRmUNFRWOWzP?si=b-8_wvdzTvun8jYS8010kA

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