Warum soll man sich mit der Moral beschäftigen, wenn sie individuell und flexibel ist? Bereits in dieser Frage steckt eine moralische Implikation, nämlich sich mit der Moral beschäftigen zu sollen. Die Frage müsste eigentlich lauten: müssen wir uns mit der Moral beschäftigen, obwohl sie individuell und flexibel ist?
Auf den ersten Blick scheint eine Auseinandersetzung mit der Moral unnötig zu sein. Wenn die Moral etwas Individuelles ist, kann man die Einhaltung der moralischen Grundsätze, zu denen man vielleicht gelangt, nicht von anderen erwarten. Unsere Mitmenschen können prinzipiell auch zu anderen Schlussfolgerungen gelangen als man selbst. Erwartet man dennoch, dass andere Menschen die eigenen Moralvorstellungen anwenden, erhebt man seine eigenen Moralvorstellungen über jene der anderen Menschen. Diese Abwertung fremder moralischer Gebote oder Verbote bzw. die Erhebung der eigenen Moral über die der anderen ist selbst ein moralisches Urteil und kann somit nicht logisch zur Überhöhung der eigenen Moral dienen. Dass Moral etwas Individuelles ist, zeigt jedes Gespräch mit verschiedenen Menschen. Zwar wird man sich für gewöhnlich auf einige moralische Gebote und Verbote einigen können, wie beispielsweise „Menschen töten ist schlecht und verboten“. Doch bereits hier differenziert sich die Moral aus, wenn man konkreter nachfragt – z.B. nach der Todesstrafe für Verbrecher. Sobald man ins Detail geht, wird man für Handlungen des Alltags keinen einheitlichen Moralkonsens beschließen können.
Dass unsere eigene Moral flexibel ist, beweist unser eigenes Verhalten zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Situationen. Wer sich in seiner Jugend gegen „das System“ auflehnt, wird im Alter in der Regel milde lächelnd an frühere Ansichten zurückdenken. Doch solch große Zeit- und Entwicklungssprünge muss man gar nicht bemühen, um zu zeigen, dass unsere eigene Moral eine sehr flexible Angelegenheit ist. Wir können unsere Note 4 in der Klassenarbeit gut und schlecht finden – abhängig davon, wie die Arbeit ausgefallen ist. Unter lauter fünfen und sechsen bewerten wir unsere 4 positiv. Schreiben unsere Mitschüler fast nur „sehr gut“ oder „gut“, werden wir unsere 4 entsprechend schlechter finden – obwohl die 4 in beiden Situationen die gleiche Aussage über unsere Leistung in der Klassenarbeit ausdrückt. Ein und dieselbe Note bewerten wir unterschiedlich – je nach Sichtweise, welche wiederum aufgrund des Kontextes unterschiedlich ist.
Welchen Stellenwert kann die Moral also haben, wenn sie jeweils bloß unser eigener Maßstab sein kann und sogar von uns selbst je nach Kontext und Betrachtungsweise so zurechtgebogen wird, wie wir es gerne hätten? Welchen Wert hat eine moralische Anschauung, wenn sie – überspitzt ausgedrückt – wie ein Fähnchen im Wind ist? Wird Moral überschätzt?
Über Gedankenanstöße und Kommentare wäre ich dankbar! 🙂